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Die Industrie startet neu - und setzt zurück

Von Arbeitspraktiken bis hin zu Supply-Chain-Modellen - Fertigungsunternehmen stellen sich neuen Betriebsweisen

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Nach dem wochenlangen Lockdown infolge der COVID-19-Pandemie war China das erste Land, in dem die Menschen wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten. Und die Veränderungen sind immens. Ein Beispiel: Um Zugang zu den futuristischen Büros und Technologiestätten in den Wangjing-Soho-Gebäuden in Peking zu erhalten, müssen sie nicht nur ihren herkömmlichen Büroausweis vorlegen, sondern zudem einen von der Regierung ausgestellten QR-Code vorzeigen, der ihren in Echtzeit aktualisierten Bewegungsverlauf anzeigt. Jede Person muss eine Maske tragen. Niemand erhält Einlass, dessen Temperatur nicht gemessen wurde. Während der Stoßzeiten wird im Empfangsbereich ein Wärmebildgerät eingesetzt, das große Menschenmengen scannen kann, um Personen mit erhöhter Körpertemperatur zu identifizieren.

Darüber hinaus muss sich jedes Unternehmen in diesem Komplex mit neuen Arbeitsweisen auseinandersetzen. Es muss Abstände zwischen den Arbeitsplätzen schaffen, Barrieren installieren, spezielle Reinigungs- und Desinfizierungsmaßnahmen einführen, die Arbeit in Schichten organisieren, um die Zahl der zugleich anwesenden Personen zu reduzieren – und nicht zuletzt herausfinden, wie man in Zeiten der sozialen Distanz Aufzüge benutzt.

Änderungen der Grundregeln der Wirtschaft

Weltweit sind Unternehmen nun damit beschäftigt, vergleichbare Vorgaben zu entwickeln, um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder in Fabriken und Büros zu bringen; Vorgaben, die wahrscheinlich noch viele Monate oder vielleicht sogar Jahre in Kraft bleiben werden. Viele große Industrie-Unternehmen, darunter die meisten Automobilkonzerne, haben bereits damit begonnen, ihre Produktionslinien wieder in Betrieb zu nehmen. Dabei betonen sie zu Recht, dass ihr Hauptanliegen die Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist. Dennoch könnte sich die Gesundheit der Belegschaft als die geringste Schwierigkeit für die Unternehmen erweisen. Veränderungen auf dem Markt sowie in der Struktur des Geschäftsbetriebs könnten sich als noch größere Herausforderung erweisen. Denn die Grundregeln des Geschäftslebens ändern sich, und jedes Unternehmen wird wahrscheinlich seinen eigenen Weg in die Zukunft finden müssen.

Die größten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie betreffen die Nachfrage. Während des Lockdowns kaufen die Verbraucher nicht nur weniger, sondern auch anders. Die Unternehmen mussten bereits ihren Produktmix ändern. So verkleinerten viele Hersteller und Einzelhändler ihre Produktpaletten, aber erhöhten ihre Packungsgrößen. Auf diese Weise entsprechen sie dem Wunsch der Verbraucher, seltener, aber dann größere Mengen einzukaufen. Die flexibelsten Unternehmen - die auf die sich verändernde Verbrauchernachfrage reagieren können - werden von diesem Vorteil profitieren.

Die Unternehmen müssen zudem für ein komplexes wirtschaftliches Umfeld planen. Pandemiebedingte Beschränkungen werden nicht auf einen Schlag weltweit aufgehoben; vielmehr sind die Bedingungen von Land zu Land unterschiedlich. Die Beschränkungen können gelockert, aber bei Bedarf auch wieder verschärft werden. Das bedeutet: Einst nahtlose, grenzüberschreitende Lieferketten, die auf einen vorhersehbaren freien Verkehr angewiesen waren, sind nicht mehr nahtlos.

Belastbarkeit aufbauen

Es ist eine Zeit für neues strategisches Denken. Denn Hersteller, die ihre Unternehmen im Zeitalter der Globalisierung auf schlanke Abläufe ausgerichtet haben, müssen nun nicht nur ihre Praktiken, sondern auch ihre gesamte Philosophie ändern. Sprachen Unternehmen zuvor hauptsächlich über Effizienz, denken jetzt viele über Belastbarkeit nach. Das "Just-in-time"-Betriebsmodell, das von minimalen Lagerbeständen, integrierten Beziehungen zu einer kleinen Anzahl von Schlüssellieferanten und einer reibungslosen Logistik abhängt, erwies sich als anfällig. Belastbarkeit (auch Resilienz genannt) bedeutet, Betriebe aufzubauen, bei denen die Produktion nicht ausfällt, sobald ein Teil der Kette unterbrochen wird.

Insbesondere ist es zwingend notwendig geworden, den Übergang zur Automatisierung und Digitalisierung zu beschleunigen. Automatisierung steht für viel mehr als robotergestützte Montagelinien: Intelligente Automatisierung auf der Grundlage künstlicher Intelligenz bedeutet vielmehr, dass zahlreiche Aufgaben von autonomen Maschinen erledigt werden können, die nicht dem Coronavirus zum Opfer fallen: Dabei reicht das Aufgabenspektrum von der Konstruktion bis zur Verwaltung, von der Reinigung eines Operationssaals bis hin zum Fliegen einer Drohne.

In der Zwischenzeit wird die digitale Kommunikation über Hochgeschwindigkeits-Breitband und 5G-Mobilfunk das während des Lockdowns aufkommende Modell der Arbeit von zuhause und "online first" wohl zu einem Merkmal des Geschäftslebens werden lassen, dem viele applaudieren. Gemäß einer kürzlich von PwC durchgeführten Umfrage plant die Hälfte der Unternehmen, das Arbeiten im Homeoffice zu einer dauerhaften Option für Stellen zu machen, die dies ermöglichen.

Die Bedrohung, die von Pandemien ausgeht, ist seit langem bekannt, aber es wurden nur wenige Vorkehrungen getroffen. Das ändert sich nun. COVID-19 wird am Ende gezähmt sein, aber neue Pandemien könnten folgen. Seit dem Jahr 2000 gab es etwa alle drei Jahre eine Virusepidemie: SARS, MERS, Ebola, H1N1, Zika. Jede von ihnen hätte eine Pandemie werden können. Unternehmen wollen nicht noch einmal unvorbereitet von einem Virus erwischt werden.