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Feuer und Pulver

Lauren Groff wurde gebeten, die Geschichte der Julia aus Shakespeares "Romeo und Julia" im Einklang mit dem Thema des Pirelli-Kalenders 2020, Looking for Juliet, neu zu interpretieren

Nach der langen Stille stöhnte der Geysir und das kochende Wasser zischte zehn Meter hoch in die Luft. Der Wind trug den Dampf zu den Menschen, die vor ihm zurückwichen: Und dann tauchte er neben ihr auf, der Junge, den sie im Bus bemerkt hatte. Sein glattes Gesicht, seine zarten Hände. Sie fühlte, wie ihr ganzer Körper sich zusammenzog. Er sah sie an und ein Schauer lief durch ihn hindurch, doch seine Mutter beobachtete ihn und er wandte sich ab.

Ihre Väter waren Diplomaten aus Ländern, die im Streit lagen; das Treffen geheim, Island neutral. Das Land des Mädchens war den ganzen Sommer über sonnig und den ganzen Winter über dunkel. Dort wurden die Mädchen dazu erzogen, laut und stark zu sein. Das Land des Jungen war heiß und ernsthaft; die einzigen Mädchen, die er kannte, waren seine Schwestern. Weil die Väter sich eine Woche lang den ganzen Tag über trafen, organisierte das Hotel für die Familien und die Mitarbeiter der Diplomaten Ausflüge zum Geysir, zum Wasserfall und zum Haus eines großen Schriftstellers.

Bei einem Mittagsbuffet schöpfte der Junge Fischsuppe in seine Schüssel. Sie streckte ihre Hand aus und lächelte. So wurde es entschieden, stillschweigend.
Die Mütter, die eine eisig, die andere reserviert, schliefen auf der Rückfahrt ein; der Junge und das Mädchen rutschten vorbei und schlichen sich nach hinten. Sie folgte seine langen Wimpern mit einer Fingerspitze. Er küsste ihre Hand, dann ihren Mund.

Spät erhielt sie eine SMS von ihm, als sie in dem Raum war, den sie mit ihrer Schwester teilte. Sie lieh sich ein Kleid, nahm dann die Treppe zur Lobby und fuhr mit einem Taxi zu dem Nachtclub, wo der Türsteher ihr zuzwinkerte und sie hineinließ. Das zerklüftete rote Licht und die prickelnde Musik ließ sie zusammenzucken. Sie fand den Jungen, der in einer Ecke auf sie wartete.

Sie sprachen über alles, außer über den Hass ihrer Väter. Ihrer nannte seinen korrupt. Seiner hielt ihren für einen blutigen Narren. Schüchtern berührte er ihre Hand. Sie lachte und drückte sich gegen ihn. Sie waren trübselig, wund und doch voller Freude, als sie sich im Morgengrauen in der Lobby trennten.

Er war zu glücklich, um zu schlafen. Und so stand er unter ihrem Fenster und beobachtete ihre Silhouette, während sie sich auszog. Als sein Handy klingelte, hatte er zwei Eindrücke von ihr zugleich: ihre Silhouette und das zarte Fleisch des Fotos.

Ihre Gespräche wurden schlechter; die Väter liefen umher und brüllten. Der Junge und das Mädchen trafen sich in den Grotten der Geothermalbecken, im eiskalten Wasser des Atlantiks, in den Konferenzräumen des Hotels, den Duschen des Fitnessstudios.

Doch inmitten dieses Nervenkitzels verpfiff ihre Schwester sie. Als das Mädchen vor Tagesanbruch in ihr Zimmer kam, sah sie ihren Vater finster im Stuhl sitzen. „Kleiner Idiot“, sagte er. „Die Familie des Jungen ist korrupt. Weißt du, wie sie Frauen in diesem Land behandeln?“ Und immer so weiter und weiter.

Etwas in dem Mädchen verhärtete sich. „Es ist mir egal“, sagte sie, trotzig. „Wir werden heiraten.“

Der Vater lachte. „Du bist ein Kind“, erwiderte er. „Das kannst du nicht.“

Doch als sie unnachgiebig blieb, sagte er verwirrt: „Die Ehe ist mittelalterlich. Die Ehe bedeutet, die Frau gehört dem Mann!“

Sie lachte ihren Vater aus, und er erkannte seine Heuchelei, was ihn nur noch wütender machte. Er schrie, dass ihre Mutter an diesem Abend einen Flug nach Hause buchen solle. Dann schnappte er sich das Handy des Mädchens. Sie rannte in den Nachtclub und weinte vor dem Türsteher, der ihr sein Handy lieh, damit sie den Jungen anrufen konnte.

Sie hingen im Hinterzimmer zusammen. In aller Eile und Wut entstand ihr Plan, ein Zeichen ihrer Ernsthaftigkeit; es blieb keine Zeit, ihn auf Fehler zu überprüfen. Der Türsteher verkaufte ihnen widerwillig Pillen, ohne zu fragen, was sie damit wollten.

Am Nachmittag lag das Mädchen allein in ihrem Bett, eine Notiz in der Hand. Sie fühlte, wie der Schlaf sie nach unten zog. Aber die Mutter und die Schwester blieben zu lange aus, und die Gespräche der Väter zogen sich hin. Niemand trat bis zur geplanten Zeit in das Zimmer. Eine halbe Stunde, nachdem der Krankenwagen hätte gerufen werden sollen, erfasste Panik den Jungen. Er stieß seine Schulter gegen die Tür. Er entdeckte das Mädchen reglos und kalt.

Er rief den Notdienst und schloss sich dann im Badezimmer ein. Weil die Sanitäter das Mädchen behandelten, fand man den Jungen erst viel später.

Nach einigen Tagen wachte das Mädchen auf, das Licht war zu hell. Sie verabreichten ihr Beruhigungsmittel.

Als sie ihre Mutter um eine Nachricht über den Jungen anflehte, sagte sie schließlich: „Liebling. Er ist tot.“

Das Mädchen hätte es noch einmal versucht, wären die Türen nicht verschlossen und die Fenster nicht bruchsicher gewesen.

Nur langsam kehrte sie zu sich selbst zurück. Sie flog nach Hause, ging zur Universität, übernahm das Make-up-Geschäft ihrer Mutter, wurde reich. Sie lebte mit einem blonden Mann zusammen, heiratete ihn aber nicht. Sie hatten Kinder.

Und in den goldenen Sommern des Nordens - mit Beeren und Hunden, Booten und Wein - sah sie ihren Kindern beim Spielen zu und spürte in ihrem inneren einem Glücksgefühl nach. Doch das kleine heiße Feuer, das in ihrer Mitte gebrannt hatte, war erloschen. Endlich verstand sie: Zwischen der Welt und ihr würde immer eine Dunkelheit schweben, der Rauch der toten Flamme.


Von Lauren Groff